Uschi, was könnte ich jetzt lesen?

 

“Die vergessene Generation” von Sabine Bode

 

Selten hat ein Buch mich so beschäftigt. Und deshalb möchte ich es Euch hier ans Herz legen.

Sofort hat sich mir die Frage gestellt: was ist dran an diesem Thema für mich? Was hat das Buch mit mir und meiner Familie zu tun… und was hat es mit unserer Gesellschaft zu tun?

 

Dieses Buch hat mir ein ganz neues Verständnis meiner Familiengeschichte ermöglicht!

 

Ich habe mich schon viel und intensiv mit der Geschichte meiner Familie beschäftigt. Den Erzählungen meiner Eltern gelauscht, wenn sie von ihren Eltern und Großeltern erzählten. Es war für uns ganz selbstverständlich, über die Generationen vor uns zu reden. Dabei ging es weniger um den großen Rahmen des Lebens der Generationen. Es ging um die Persönlichkeiten, die uns geprägt haben und wie sie ihr Leben gelebt haben.

 

Wenn ich zurückblicke in die Zeit, als meine Oma und meine Großmama noch gelebt haben, genauso wie mein strenger Großvater – dann denke ich an eine Zeit, die heute wie lang vergangene Geschichte erscheint. So vieles scheint heute aus der Zeit gefallen und hat ja buchstäblich bereits im letzten Jahrhundert stattgefunden. Familiendramen wie Scheidung, uneheliche Geburten oder zu früher Tod. Alles kam vor und die darin beteiligten Onkel und Tanten erschien manchmal wie für einen Roman erfunden mit ihren Schrullen und schrägen Ideen.

 

Es gab auch Erzählungen aus dem Krieg, harten und chaotischen Zeiten. Der Opa war lange in russischer Gefangenschaft und Spätheimkehrer, der Großvater kam mit Tuberkulose direkt in eine Klinik und dann mit einer neuen Partnerin zurück.

Vieles wurde mir erzählt in langen Abenden, besonders wenn es spät war und ich nachfragte. Vieles aber wird auch immer im Verborgenen bleiben. Am besten ließen sich die Geschichten erzählen, die etwas Komisches hatten und die als Anekdoten immer wieder auf den Tisch kamen.

 

Aber es gab auch Tabus. Die Fluchtgeschichte meines Vaters kenne ich nur in Fragmenten und sie läßt sich wohl nicht mehr recherchieren. Und “natürlich” waren die Nazis in der Familie nur die, mit denen man wenig zu tun hatte. Wahrheit und Dichtung, manches wird sich nie klären lassen und die Frage stellt sich auch mir: wo will ich denn überhaupt genauer hingucken?

 

Schon immer haben mich auch weniger die harten Fakten interessiert, als vielmehr die Charaktere in meiner Familie und die Prägungen, die dann auf uns Kinder wirkten. Deshalb waren besonders die starken Persönlichkeiten, aber auch die Brüche und Dramen interessant.

 

Gaben sie doch Erklärungen dafür, warum wir so geworden sind, wie wir sind.

 

Wenn ich mich heute frage, warum mich die Bücher von Sabine Bode so beschäftigen und warum ich bei Luise Reddemann nachlese, was zu tun ist für “Kriegskinder und Kriegsenkel in der Psychotherapie”, dann merke ich, dass dieses Thema mich tiefer und langanhaltender ergriffen hat als erwartet.

 

Denn erst bei der Lektüre hat Sabine Bode für mich ein Thema “aufgemacht”, das ich als ein reines Familienthema verstanden hatte. Ich bin eine Kriegsenkelin. Den Begriff hat sie geprägt und damit gibt es erst seit einigen Jahren eine Form der Einordnung als Generationen, die vom Krieg direkt und indirekt betroffen waren.

 

Erst durch so eine Einordnung tut sich auch für uns selbst eine neue Welt auf, in der wir merken, dass unsere Lebensgeschichte von so viel mehr geprägt wird als von den Eltern und Großeltern, von Schule und Freundinnen.

 

 Wir entwickeln uns immer in dem Kontext, in dem wir leben.

 

Geschichte wird persönlich erlebt, aber Privates ist oft entscheidend für den Lauf der Geschichte und darin liegt auch unsere Verantwortung. Wenn wir das erkennen, können wir die Zukunft bewusst besser gestalten.

 

Wir dürfen uns die Leiden und Freuden in unserer Familie anschauen. Wir müssen sie aber im Kontext der Leiden ansehen, die frühere Generationen unserer Familie mit verursacht haben können.

Die Geschichte unseres Landes – damit hatten wir uns in der Schule ausgiebig beschäftigt. Das hatte aber immer etwas Abstraktes. Mit diesem Buch kam Geschichte plötzlich ganz nah. Von einer ganzen Generation erlebt, aber auch direkt verankert und hautnah gelebt in meiner Familie.

 

Diese emotionale Verbindung läßt wenig Möglichkeit, die Vergangenheit als etwas wegzuschieben, das uns gar nicht direkt angeht. Wir Kriegsenkel haben Kriegskinder als Eltern. Das hat etwas mit uns gemacht. Zu verstehen, wie diese Eltern als Kinder gewesen sein mögen, was sie möglicherweise traumatisiert hat und wie sie auf Grund ihrer Erfahrungen ihren späteren Lebensweg gegangen sind, hat mir vieles erklärt. Das habe ich vorher nicht bewusst wahrgenommen und erst recht nicht begriffen.

 

Ich habe jetzt das Wissen, um mehr Verständnis aufzubringen und das Leben meiner Eltern einzuordnen in den gesamtgesellschaftlichen Kontext. Auch ich bin geprägt von Verhaltensweisen meiner Eltern, die den Krieg als Kinder erlebt und überlebt haben.

 

So mancher Glaubenssatz scheint aus dieser Zeit zu stammen.

 

Vielleicht darf ich diese Glaubenssätze jetzt endlich über Bord werfen? Vielleicht kann ich aber auch einzelne weitergegebene Lehren aus dem Leben meiner Eltern behalten und als gute Lösungen anerkennen.

 

Mit meinem neu gewachsenen Verständnis und dem Wissen um die Verletzungen, die meine Eltern als Kinder im Krieg und in der Nachkriegszeit erlebt haben, bin ich verletzlicher und verständnisvoller geworden. Und ich kann das heute zulassen. Ich bin erst am Anfang, das zu begreifen, aber es ist wichtig. Unsere Kinder werden hoffentlich davon profitieren, dass wir transgenerational weitergegebene Verletzungen verarbeiten und den Kreislauf der Weitergabe durchbrechen.

 

Vielleicht interessiert Dich auch, wie in Deiner Familie alles zusammenhängt und was Dein eigenes Leben geprägt hat.

 

Dann ist das Lesen dieser Bücher ein guter erster Schritt. Und danach hilft reden.

 

Es gibt so vieles, was wir als Kriegsenkel ähnlich erlebt haben. Wir sind nicht alleine und es wird immer mehr Wissen zwischen Kriegsenkeln geteilt. Um anzukommen, haben wir noch ein Weg vor uns, aber wir können ihn gemeinsam gehen.

Deine Uschi

 

Mein Tipp: Das Buch “Die vergessene Generation” von Sabine Bode. Und “Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation”. Beides erschienen bei Klett-Cotta.